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  • AutorenbildIvanina Reitenbach

Rituale für das überforderte Nervensystem

Rückschau: 6 März 2020 Ich sitze im Zug nach Köln zu einem Treffen mit geschätzten Kolleg*innen. Ich kann mich gut erinnern, wie alarmiert ich war als ich am Hamburger Hauptbahnhof stand und dachte „Ist das Virus hier angekommen? Kann ich mich anstecken? Wie erkenne ich die Gefahr?“. Es war keine bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern ein unbewusstes Unbehagen mit dem Zug unterwegs zu sein in dieser neuen und unsicheren Situation.


Angekommen an unsem Treffpunkt in der wunderschönen Vulkaneifel, entspannten sich meine Nerven augenblicklich als ich auf bekannte Gesichter traf. Wir hatten ein wundervolles Programm für unser Treffen geplant: ein Sieben Generationen Ritual, eine Schwitzhütte und einen ausgiebigen Spaziergang zum Wasserfall von Dreimühlen. Der Wasserfall war für mich ein Highlight. Ich war wie verzaubert. Das Zusammenspiel von Moos und plätscherndem Wasser fühlte sich wie aus einer anderen Welt an.


An diesem Wochenende gestaltete ich das letzte Mal ein Ritual im physischen Raum. Wir hatten Glück, dass wir dieses Treffen realisieren konnten. Eine Woche später machte Deutschland und der Rest der Welt komplett dicht. Es blieb die Erinnerung meines Nervensystems an eine Gruppe herzerwärmender Menschen und das Plätschern des Wasserfalls.


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The new normal


Februar 2022 Zwei Jahre des kollektiven Wahnsinns, zwei Jahre einer Welt im Überlebensmodus. Es hieß irgendwann, wir säßen im selben Boot. Das stimmt so nicht. Wir sitzen in verschiedenen Booten, jedoch im selben Ozean kollektiver Überforderung.


Unser Nervenkostüm mag es gar nicht, wenn die Welt permanent VUCA ist – sprunghaft, unsicher, komplex und mehrdeutig. Das Nervensystem kann sich dann entspannen, wenn es Signale der Sicherheit für sich registriert – eine freundliche Stimme, eine einladende Atmosphäre, ein Lächeln. Wenn du die letzten zwei Jahre Review passieren lässt – wie oft hast du solche Anzeichen für Sicherheit und Geborgenheit in den Medien wahrgenommen? Sobald man den Fernseher einschaltet, den Laptop aufklappt oder sich auf dem Smartphone die Kurznachrichten durchblättert, wird man mit Signalen für Gefahr nur so bombardiert. Bilder von Intensivstationen und Menschen an Beatmungsgeräten, Inzidenzwerte und Sterberaten.


Wenn unser Nervensystem davon weglaufen könnte, würde es schon längst in einer Hängematte in Thailand liegen. In den sozialen Medien zieht sich dieses Stressmuster fort und spaltet Gesellschaft, Familien, Kolleg*innen und Freunde. Der blinde Fleck eines gestressten Kollektivs ist die Tatsache, dass man aus dem Überlebensmodus heraus keine kreativen und konstruktiven Lösungen entwickeln kann.




Wie unser Nervensystem unter Stress funktioniert

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Unser Nervensystem sehnt sich nach Verbindung und Sicherheit. Das ist unser Zuhause. Das Erdgeschoss unseres Hauses. Wenn wir uns sicher und geborgen fühlen, sind wir neugierig, kontaktfreudig, wir können unseren präfrontalen Cortex konstruktiv und kreativ nutzen. Und was am wichtigsten ist, in diesem Zustand haben wir EMPATHIE füreinander. Wir können uns miteinander VERBINDEN und gelingende Beziehungen gestalten. Blicken wir aus diesem ressourcevollen Zustand auf die Welt, erscheint uns diese ganz in Ordnung – wir sehen Perspektiven, Möglichkeiten und Lösungswege.


Sobald unser Nervensystem Signale für Gefahr im eigenen Körper (z. B. schnelles Herzklopfen), in der Umgebung (z.B. negative Nachrichten) oder zwischenmenschlichen Interaktionen (z.B. eine erhobene Stimme) erkennt, verlässt es den sicheren Modus und fährt eine Etage tiefer in dem ersten Untergeschoss (-1). Dies ist der Ort des Kampfes oder der Flucht, wo der Körper jede Menge Energie z.B. durch Kortisol- und Adrenalinausschüttung mobilisiert, und dadurch versucht mit der Gefahr fertig zu werden. Durch diese Brille erscheint uns die Welt gefährlich, anstrengend und beängstigend.


An sich ist dies eine intelligente, adaptive Strategie, wäre die Gefahr in unserem Leben nicht omnipräsent, wie seit zwei Jahren der Fall ist. Fruchten unsere Bekämpfungs- oder Fluchtversuche nicht, fühlt sich unser Nervensystem in die Ausweglosigkeit gedrängt und nimmt den Fahrstuhl eine Etage tiefer (-2). An diesem Ort des Kollaps und der Immobilität ist die überschüssige Energie wie weg gezaubert, es bleibt nur unsere Hülle – wir fühlen uns machtlos, hilflos und „nicht ganz da“. Die Welt ist ein dunkler Ort, ein hoffnungsloser Fall.


Welches Untergeschoss ist dir vertrauter? Jedes Nervensystem hat eine individuelle Neigung, in Stresssituationen die -1 oder doch die -2 Ebene zu wählen. Während die überschüssige Energie Organisation und Rhythmus benötigt, braucht ein System im Kollaps eher Mobilisierung und Energie um wieder nach oben zu fahren. Schließlich strebt jedes Nervensystem danach, zu Hause anzukommen – in einem gemütlichen Wohnzimmer, einer sonnendurchfluteten Küche, einem grünen Garten.




Wie Rituale auf unser Nervensystem wirken

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Rituale sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Ob wiederkehrend oder einmalig, Rituale bieten einen Rahmen, indem man einen geistigen Raum mit der Intention betritt, das eigene Leben zu organisieren, eine Lebensphase zu würdigen, sich vom Alten zu verabschieden und etwas Neues ins Leben zu rufen. In diesem Sinne bieten Rituale Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung – alles Aspekte, die unserem Nervensystem helfen, sich selbst zu regulieren. In Gemeinschaft verstärkt sich diese selbstregulierende Wirkung durch die Co-Regulation.


So begannen wir 2019 unsere Rituale innerhalb des Life Rituals Projekts vor Ort zu gestalten. Seit 2020 laden wir Menschen, die sich nach tieferem Sinn, Gemeinschaft und Verbindung sehnen, zu besonderen Begegnungen im virtuellen Raum ein. Zwar fehlen ein paar sensorische Aspekte (wir können uns nicht berühren und riechen), dennoch ist Nähe und Gemeinschaft mit Hilfe der Rituale virtuell nicht nur möglich, sondern auch zutiefst nährend und erfüllend.


Das Erfolgsrezept für einen sicheren Raum in virtuellen Ritualen ist zunächst eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich unser Nervensystem entspannen kann. Die Menschen, die zum ersten Mal an unseren Ritualen teilnehmen, kennen uns und unseren Rahmen nicht. Angenehmer Hintergrund, Musik und eine freundliche Begrüßung signalisieren dem System „Hier bin ich sicher“. Nach dem Motto „Make things nice“ gestalten wir unsere visuellen Materialien ästhetisch und harmonisierend. Ganz im Sinne der Rituale haben unsere Life Rituals einen festen Rahmen – wir starten immer mit einem Check-In im virtuellen Kreis und beenden den Abend mit einem kürzeren oder längeren Check-Out. Das Herzstück – unsere Rituale – variieren je nach Thema und Schwerpunkt. Im Kern geht es jedoch immer um Herz-zu-Herz Verbindung, Transformation und Menschsein.



Kleine Rituale für die Selbstregulation

 
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Doch Rituale sind für uns nicht nur Veränderungsprozesse in einer Gemeinschaft, sondern auch Meilensteine der Selbstfürsorge und Selbstregulation, die unseren Alltag strukturieren, und uns immer wieder in einen schöpferischen, kreativen Zustand hinein versetzen. Besonders in herausfordernden Zeiten können sie eine wahre Stütze sein und zu jenen Oasen werden, wo unsere Seele sich erholt und neue Kraft tankt.


Wenn du gerade dich in so einer herausfordernden Lebensphase befindest, schnell überfordert bist, deine Stimmung hin und her schwankt, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dein Nervensystem überhitzt ist. Wie oben schon erwähnt reagiert jedes Nervenkostüm anders auf Dauerstress und Gefahrensignale. Während die einen mit überschüssiger chaotischer Energie geflutet werden, verfallen andere in die Hilflosigkeit und Immobilität.



Die folgende Liste an kleinen Ritualen und Tipps kann dir helfen, dein überfordertes Nervensystem wieder zu beruhigen. Wichtig ist es, ein paar regulierende Rituale dauerhaft in deinen Alltag zu installieren.



  • 1-Aufgabe-pro-Tag Ritual Unter Stress mag unser Nervensystem nur eine geringe Wahl an Möglichkeiten. Wenn du überfordert bist, hilft es dir wenig, wenn du auf deine elend lange To-Do Liste blickst und vor lauter Bäumen den Wald nicht siehst. Ganz im Gegenteil, der Stresspegel kann sogar noch mehr steigen und du rutscht schnell in die Ohnmacht ab. Suche dir in solchen Fällen nur eine Aufgabe aus, die du an dem Tag bearbeiten willst. Es soll etwas sein, was absolut notwendig ist. Frei nach dem Spruch: „Tue zuerst das Notwendige, dann das Mögliche und plötzlich schaffst du das Unmögliche.“


  • 25/5 Takt Ritual Jeder weiß, dass unter Stress unsere kognitiven Kapazitäten nicht optimal ausgeschöpft werden können. Die Kreativität und die Konzentration leiden drunter, wir lassen uns schnell ablenken und schweifen ab. Das 25-5 Minuten Ritual ist sehr simpel: du konzentrierst dich 25 Minuten lang auf eine Sache und machst danach 5 Minuten Pause. Die Pause kannst du in Bewegung verbringen, mit Musik, Selbstmassage oder Yoga, ganz nach deinem Geschmack. Wichtig ist, dass du dich nicht durch dein Smartphone hypnotisieren lässt, sondern etwas Gutes für deinen Körper tust. Und weiter geht’s mit der nächsten 25-minütigen Arbeitsphase.


  • Ritual für überschüssige Energie Wenn du merkst, dass du in den ersten Untergeschoss fährst und Unmengen an chaotischer Energie in dir hast, geht es darum, diese Energie zu organisieren. Am einfachsten funktioniert dies mit Rhythmus und Musik. Spiele ein schnelles Musikstück ab und bewege dich regelmäßig zu dem Rhythmus. Du kannst hüpfen, die Arme hin- und her bewegen, tanzen oder boxen. Atme dabei im Rhythmus durch die Nase ein und aus. Nach einigen Minuten dürfte deine Energie sich geordneter anfühlen.


  • Walk & Breathe – Ritual zur Mobilisierung Fühlst du dich erschöpft und hilflos ist es sehr ratsam in die frische Luft zu gehen, am besten in den Park oder in den in der Nähe gelegenen Wald. Gehe rhythmisch und atme vier oder fünf Schritte lang ein und vier oder fünf Schritte lang aus. Behalte diesen Atemrhythmus beim Gehen möglichst 15 Minuten oder länger bei, bis du in einen Flow Zustand kommst.


 


Nach dem Fazit kommt die Selbstverantwortung


Jedes Nervensystem ist anders. Und doch streben wir alle nach Sicherheit und Verbundenheit. Es liegt an jedem von uns, in die Selbstverantwortung zu gehen und für unsere Selbstregulation zu sorgen. Denn ein ausgeglichenes Nervensystem kann eine sichere Basis der Co-Regulation für jemand anderes bieten. Nur gemeinsam können wir diese kollektive Überforderung meistern – jeder für sich im eigenen Boot und zusammen verbunden in dem Ozean des Lebens.










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